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Konservative ohne Ideen Merkels CDU steuert ins Vakuum

Die SPD am Boden, die Union der strahlende Gewinner in allen Umfragen - alles bestens für die Konservativen? Der Schein trügt. Der CDU sind unter Angela Merkel die Ideen abhandengekommen. Interesse an Debatten hat die Parteichefin kaum, die Aussichten sind finster.
Von Franz Walter
Kanzlerin Merkel: Wenig Interesse an Diskussionen über die Christdemokratie

Kanzlerin Merkel: Wenig Interesse an Diskussionen über die Christdemokratie

Foto: A2942 Ingo Wagner/ dpa

Göttingen - Man muss den Sozialdemokraten nicht unbedingt beipflichten, wenn sie sich in diesen Tagen voller Selbstmitleid als Opfer hämischer Medienkampagnen darstellen. Aber ein bisschen kann man ihren Unmut verstehen, beobachtet man den pfleglichen Umgang vieler Kommentatoren mit der CDU. Alles scheint demzufolge bestens zu stehen mit der CDU der populären Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Dabei ist die Welt der deutschen Christdemokraten alles andere als in Ordnung. Schaut man genauer hin, müssten dort die Sirenen ähnlich schrill heulen wie bei den Sozialdemokraten. Gehen wir die Faktenlage rasch und möglichst schnörkellos durch:

  • Erstens: Seit über einer Dekade gelingt es der CDU in den 15 Bundesländern, in denen sie für den Bundestag zur Wahl steht, im Durchschnitt nicht mehr, die 30-Prozent-Hürde zu überwinden; sie ist auf Länderebene genauso im 20-Prozent-Elend gefangen wie die SPD.

  • Zweitens: Auf Werte über 40 Prozent ist die CDU zuletzt bei den Bundestags- und Landtagswahlen allein noch bei den über 60-Jährigen gekommen. Doch selbst in diesem Altersbereich sinken die Anteile der CDU seit den achtziger Jahren kontinuierlich.

  1. Drittens: Bei den unter 45-jährigen Wählerinnen und Wählern erreicht die CDU keine 30 Prozent mehr. Je höher die Bürger dieser Jahrgänge qualifiziert und gebildet sind, desto geringer fällt gar die Präferenz für die Christdemokraten aus.

  • Viertens: Keine andere Parteianhängerschaft ist derart stark durch die Gruppe von Nichterwerbstätigen, also von Rentnern, Arbeitslosen und anderen, dominiert wie die der CDU. Nur die Hälfte der christdemokratischen Wähler steht aktiv im Beruf. Als vitaler Träger dynamischer Marktreformen taugt das CDU-Lager daher schon sozialstrukturell nicht.

  • Fünftens: Eben das dürfte ein entscheidender Grund dafür sein, warum der Reformkatalog des Leipziger Parteitages der CDU von 2003 sang- und klanglos in der Versenkung verschwunden ist. Der enttäuschende Ausgang der Bundestagswahl 2005 hat lediglich bestätigt, was sich in Soziologie und Mentalität der christdemokratischen Sympathisanten längst abgezeichnet hatte: Gerade in ihren ländlich-katholischen Hochburgen waren Befürworter der Reformen denkbar rar.

  • Sechstens: Das bedeutete das Ende des neoliberalen Furors in der CDU. Aber - und hier findet sich eine weitere Parallele zum inneren Zerfall der SPD - die christdemokratische Führung hat das nie erläutert. Vor allem: Niemand weiß, welche Idee oder Philosophie des Christdemokratischen an die Stelle des "Leipziger Geistes" getreten ist oder treten wird. Selbst fast 50 Prozent der CDU/CSU-Anhänger stimmen, wie das Institut Infratest dimap jüngst ermittelt hat, der Aussage zu: "Bei der CDU/CSU weiß man nicht genau, was sie nach der Bundestagswahl vorhat."

  • Siebtens: Die Tatsache, dass die CDU unter Merkel einen Schwenk eben ohne jegliche Erklärung vollzogen hat, lässt viele CDU-Mitglieder sprachlos zurück - und das trifft vor allem die über Jahrzehnte treuesten und aktiven; auch darin ist die Analogie zur SPD seit 1999 auffällig. Gerade der Mittelbau vermag nicht mehr auf den Marktplätzen inbrünstig überzeugt die Ziele seiner Partei darzulegen. Denn er kennt sie nicht, weiß selbst nicht, was noch gilt, was wesentlich und unverzichtbar ist. Denn unter Merkel ist wie unter Schröder alles möglich, alles denkbar. Nicht nur die früheren sozialdemokratischen Aktivisten haben sich resigniert zurückgezogen. In der CDU ist dieser Vorgang ganz ähnlich zu beobachten - und wird eisern verschwiegen.

  • Achtens: Wo die Botschafter einer Partei nach außen verstummen, versiegt die Aktivierungskraft. Seit 2005 plagt sich infolgedessen die CDU am stärksten von allen Parteien mit dem Nichtwählerproblem, das zuvor noch ein sozialdemokratisches Problem zu sein schien. Auch in diesen Wochen ist schwer zu übersehen, dass die CDU ihre Anhänger nicht sonderlich gut mobilisieren kann. Der Erosionsgrad ist im Jahr 2009 innerhalb der SPD wohl erheblich weiter fortgeschritten - das Erosionstempo aber dürfte mittelfristig bei den Christdemokraten ebenso dramatisch ausfallen.

Der christdemokratische Schwund ist ein europaweites Phänomen. In den fünfziger Jahren stand die europäische Christdemokratie in den Ländern, in denen es sie gab, im Durchschnitt bei 50 Prozent. In den letzten Jahren bewegte sie sich vielerorts auf die 20 Prozent zu und zurück. Außerhalb Deutschlands begann der Schrumpfungsprozess der katholischen und interkonfessionellen C-Parteien schon in den achtziger Jahren, teilweise früher. Wahrscheinlich begannen die Diskussionen über eine Erneuerung christlicher Politik oder der Mitte-Rechts-Parteien dort früher und waren tiefergehend als hierzulande, weil weder Helmut Kohl noch Angela Merkel solchen Debatten schätzen.

So machen es die anderen: Sanfte, Progressive, Kapitalismuskritiker

In den Niederlanden gibt es im zuvor zeitweise schwer gebeutelten Christdemokratischen Appell unter Jan Peter Balkenende interessante Überlegungen zu einem christlich durchwirkten Kommunitarismus, die unter der Überschrift "Souveränität der Bürger im eigenen Kreis" stehen und vom Ministerpräsidenten selbst immer wieder angestoßen werden. Die schwedischen Konservativen - die allerdings wie die anderen Konservativen nicht im strengen Sinne zur christdemokratische Parteifamilie zu rechnen sind - in der Moderaten Sammlungspartei des Regierungschefs Fredrik Reinfeldt haben ihre frühere rigide Antiwohlfahrtsstaatlichkeit unterdessen auch konzeptionell überwunden. Sie basteln programmatisch an einem "sanften Konservatismus".

Die französischen Gaullisten unter dem Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy - dem "Patron der Tüchtigen", wie er sich selbst gern nennt - haben ihre Neuerungsenergien mehr auf den politischen Stil, auf die Methode politischer Führung gelenkt. Bemerkenswert ist überdies, wie die französischen Konservativen sich mehr und mehr auf die Heldengestalten des Sozialismus in ihrem Land beziehen, auf Jean Jaurès und Léon Blum, dazu bewusst frühere prominente Sozialisten in ihr Regierungshandeln einbezogen haben.

Grüner Baum statt Faust mit Fackel

Den größten programmatischen Erneuerungsehrgeiz unter den Mitte-Rechts-Parteien in Europa entfaltete der Anführer der britischen Konservativen, David Cameron. Unter Blair schien seine Partei bereits hoffnungslos abgeschlagen, geradezu isoliert als elitäre Interessenagentur arroganter Oberschicht-Engländer. Cameron achtete zunächst auf eine neue, weichere Tonlage, veränderte überdies die Parteisymbolik: Statt der martialisch hochgereckten Faust, die eine Fackel trug, kennzeichneten die Konservativen sich nun mit einem grünen Baum. Man wollte ökologisch erscheinen.

Eine Zeitlang ließ Cameron den Konservatismus durch den Theologen Phillip Blond vordenken. Das war der sicher spektakulärste Diskurs im Konservatismus der letzten Jahre. Unter dem Einfluss von Blond forderte auch Cameron eine "Rekapitalisierung der Armen", sprach von einem "ethical capitalism". Blond selbst setzte sich für einen neuen Lokalismus, für eine Selbstregulierung autonomer Bürgergemeinschaften, für eine Dezentralisation der Exekutive und die Stärkung der Zivilgesellschaft ein.

Über Monate beschäftigten die Ideen Blonds und des "Red Toryism" die intellektuelle Debatte auf der Insel; auch Teile der Linken waren fasziniert davon. Zuletzt hat Cameron allerdings Angst vor der eigenen Courage bekommen und sich von Blond abgesetzt. Cameron bevorzugt jetzt einen gemäßigten "Progressive Conservatism" statt des gewagten kapitalismuskritischen roten Toryismus.

Der "Kohlismus" ließ den Dingen seinen Lauf

Einiges an dieser Debatte war also gewiss auch Schaumschlägerei, war semantische Kosmetik für konservative Politiker, die sich vom nicht zuträglichen Etikett sozialer und ökonomischer Kälte lösen wollten. Doch anderes ist unzweifelhaft originär und ernsthaft.

Allein, in Deutschland ist von solchen Anstößen und Reflektionen innerhalb der Christdemokratie kaum etwas zu erkennen. Der "Kohlismus", der den Dingen seinen Lauf ließ, scharf geschnittene Analysen und präzise Begriffe in eindringlichen Diskussionen mied, stattdessen das Vage und Unentschiedene vorzog, dieser "Kohlismus" ist keineswegs überwunden. Und das gilt nicht nur für die CDU. Das gilt ebenso für die deutsche Gesellschaft insgesamt.

Denn wie sonst wäre die Popularität von Angela Merkel erklärbar? Durch ihren Ideenreichtum oder eine Fülle kreativer Überlegungen ist sie jedenfalls bisher nicht aufgefallen.